In vielen Familien gibt es ein unausgesprochenes Gesetz: „Wir tun so, als wäre alles in Ordnung.“
Der Tisch ist gedeckt, das Lächeln geübt, doch unter der Oberfläche herrscht Spannung.
Wenn ein Elternteil narzisstisch geprägt ist, wird das Zuhause zum emotionalen Minenfeld.
Kleine Anlässe, zum Beispiel ein falscher Ton, eine Kritik, ein unbedachter Blick, können genügen, um einen Wutausbruch auszulösen, der das gesamte System erschüttert.
Der Zyklus von Wut, Kontrolle und Versöhnung
Die Beziehung zu einem narzisstischen Elternteil verläuft selten ruhig. Sie folgt einem immer gleichen Kreislauf:
- Anspannung – die Stimmung kippt, oft ohne klaren Grund. Alle spüren: Gleich passiert etwas.
- Wutausbruch – laut, kontrollierend, verletzend. Worte werden zu Waffen.
- Schweigen – der narzisstische Elternteil entzieht Nähe, während alle anderen versuchen, die Situation zu beruhigen.
Versöhnung – nach Stunden oder Tagen folgt Zärtlichkeit, Reue oder Charme. Hoffnung kehrt zurück.
Dieser Kreislauf wiederholt sich immer wieder.
Er schafft ein Muster, das psychologisch als intermittierende Verstärkung bezeichnet wird: Auf Schmerz folgt Zuwendung. Ein Wechsel, der Menschen emotional bindet, obwohl er sie verletzt (Pincus & Lukowitsky, 2010).
Was in diesen Momenten wirklich passiert
Ein Wutausbruch des narzisstischen Elternteils ist kein Zufall.
Er dient der Selbstregulation, also dem Versuch, unerträgliche Gefühle wie Scham, Ohnmacht oder Minderwertigkeit nicht spüren zu müssen.
Da diese Emotionen im Inneren nicht gehalten werden können, werden sie nach außen verlagert, in Form von Aggression, Kontrolle oder Abwertung (Ronningstam, 2016).
Der Wutausbruch wirkt neurobiologisch wie ein kurzfristiges Ventil, er aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn und senkt für einen Moment innere Spannungen, ähnlich wie bei einer Suchtreaktion. Studien zeigen, dass Menschen mit stark narzisstischen Anteilen häufig zu kompensatorischen Strategien greifen, um unangenehme Emotionen wie Scham, Leere oder Kontrollverlust zu regulieren. Dazu zählen etwa übermäßiger Alkoholkonsum, Essanfälle, exzessives Arbeiten, Pornosucht oder digitale Ablenkung (vgl. Koob & Volkow, 2016; Ronningstam, 2016). Diese Verhaltensweisen dämpfen das emotionale Chaos kurzfristig, verhindern aber, dass echte Selbstregulation und emotionale Verarbeitung entstehen können.
Wie die Wut das Familienklima verändert
Nach einem Wutausbruch verändert sich alles.
Der Raum wird still. Der andere Elternteil versucht zu beschwichtigen, oft mit übertriebenem Verständnis oder Entschuldigungen, um den Frieden wiederherzustellen.
Die Kinder sitzen wie eingefroren. Sie beobachten, wie die Erwachsenen versuchen, Normalität zu schaffen, und übernehmen unbewusst dieselben Strategien: Anpassen, vermeiden, das eigene Fühlen unterdrücken.
Mit der Zeit wird daraus ein familiäres Überlebenssystem:
- Konflikte werden vermieden, um keinen Ausbruch zu riskieren.
- Gefühle werden heruntergespielt: „So schlimm war das doch gar nicht.“
Zuneigung hängt von der Stimmung des narzisstischen Elternteils ab.
Diese Atmosphäre macht krank. Studien zeigen, dass Kinder in emotional instabilen Familiensystemen häufiger Angststörungen, Schlafprobleme und Konzentrationsschwierigkeiten entwickeln (Schore, 2019).
Sie leben in ständiger Wachsamkeit, ihr Körper bleibt im Stressmodus, ihr Nervensystem gewöhnt sich an Alarm.
Was in Kindern vorgeht
Kinder reagieren unterschiedlich auf diese Spannungen, aber die innere Erfahrung ist oft ähnlich:
- Angst: vor dem nächsten Ausbruch, vor falschen Worten, vor Verlust von Zuneigung.
- Scham: Sie glauben, sie seien schuld an der Wut.
- Ohnmacht: Sie wissen, dass sie nichts ändern können, und lernen, Gefühle zu verstecken.
Überanpassung: Sie versuchen, perfekt zu sein, um alles ruhig zu halten.
Diese Kinder entwickeln oft eine sogenannte „emotionale Hypervigilanz“, sie spüren jede Stimmung, jedes Signal, jede Andeutung von Ärger. Im Erwachsenenalter führt das zu Überempfindlichkeit gegenüber Konflikten, Beziehungsangst oder dem Drang, es allen recht zu machen (Luyten et al., 2020).
Was die Situation mit dem anderen Elternteil macht
Der nicht-narzisstische Elternteil lebt in einem Zustand ständiger Unsicherheit.
Er läuft auf Zehenspitzen, vermeidet Reizthemen und versucht, Kinder und Partner gleichzeitig zu beruhigen.
Dieses dauerhafte Beschwichtigen erschöpft. Es raubt Energie, Selbstachtung und irgendwann auch das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung.
Viele Partner*innen narzisstischer Menschen zeigen Symptome, die an komplexe Traumafolgen erinnern: Schlafstörungen, innere Leere, psychosomatische Beschwerden, depressive Episoden.
Trotzdem bleiben viele Partner in so eine Beziehung - aus Liebe, Hoffnung oder Angst vor weiterer Eskalation.
Was beide Elternteile tun können
Auch wenn es schwer ist: Veränderung wird möglich, wenn beide Seiten beginnen, Verantwortung zu übernehmen, jede auf seine Weise.
Für den narzisstischen Elternteil:
- Selbstreflexion beginnen: Wut, Kontrolle und Schuldzuweisung sind kein Zeichen von Stärke, sondern Ausdruck innerer Angst, Scham und Selbstzweifel
- Therapeutische Hilfe annehmen: Spezialisierte Psychotherapeut*innen können helfen, Emotionen zu regulieren und alte Schamgefühle zu bearbeiten.
- Suchtverhalten verstehen: Alkohol, übermäßiges Essen, exzessive Arbeit oder digitale Ablenkung sind häufig Versuche, innere Spannungen und Schamgefühle zu betäuben. Sie beruhigen kurzfristig, verhindern jedoch, dass echte emotionale Verarbeitung stattfinden kann (Koob & Volkow, 2016; Ronningstam, 2016).
Ehrlich mit Kindern sprechen: Ein einfaches „Es tut mir leid, das war nicht richtig“ kann heilen.
Für den nicht-narzisstischen Elternteil:
- Sich selbst ernst nehmen: Dauerhaftes Aushalten ist keine Liebe, sondern ein Alarmzeichen. Wenn in einer Beziehung Angst entsteht, zum Beispiel vor Wut, Ausbrüchen oder Schweigen, ist das kein partnerschaftliches Verhalten, sondern ein Hinweis auf eine destruktive Dynamik. Liebe darf keine Angst machen.
- Schutz herstellen: Das wichtigste Ziel ist Sicherheit, für sich selbst und die Kinder. Wenn Gespräche immer wieder in Abwertung oder Bedrohung enden, braucht es klare Schutzmaßnahmen: Abstand, Rückzug aus Eskalationen oder/und professionelle Unterstützung. Kinder lernen dadurch, dass niemand in einer Familie Angst haben oder verletzt werden darf.
- Kinder emotional stärken: Gefühle zu benennen („Du hattest Angst, als Papa/Mama geschrien hat“) ist der erste Schritt. Der zweite ist, Sicherheit aktiv erlebbar zu machen. Diese Erfahrung, dass Erwachsene Verantwortung übernehmen, stabilisiert das Nervensystem von Kindern und beugt späteren Angstmustern vor (Schore, 2019).
Unterstützung annehmen: Niemand kann eine solche Dynamik allein tragen. Beratungsstellen, Therapie oder Selbsthilfegruppen bieten Entlastung und zeigen Wege, um Kontrolle, Würde und Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen.
Was Kindern langfristig hilft
Kinder brauchen keinen perfekten Alltag, sie brauchen Zuneigung, Verlässlichkeit und das Gefühl, sicher zu sein, selbst wenn Erwachsene Fehler machen. In Familien mit starken Spannungen oder narzisstischen Dynamiken erleben Kinder oft Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Scham. Diese Erfahrungen wirken umso weniger belastend, je klarer Erwachsene sie einordnen und handeln.
Wenn ein Elternteil lernt, ehrlich zu benennen, was passiert ist, ohne Schuld zu verteilen und mit klarer Haltung, entsteht Orientierung und Vertrauen:
„Mama/Papa war sehr wütend. Das war nicht in Ordnung. Du bist nicht schuld, und ich kümmere mich darum, dass es wieder sicher ist.“
Solche Aussagen verbinden emotionale Wahrheit mit Verantwortung. Kinder lernen dadurch zwei zentrale Dinge:
- Gefühle sind erlaubt, aber Verhalten hat Konsequenzen.
Erwachsene übernehmen Verantwortung, Kinder nicht.
Das verändert langfristig ihr inneres Sicherheitsgefühl.
Studien zeigen, dass Kinder, die nach belastenden Situationen Zuwendung, klare Erklärungen und aktive Beruhigung erleben, ein stabileres Stresssystem entwickeln und später besser mit Konflikten umgehen können (Schore, 2019; Denham et al., 2021).
Wichtig ist, dass Eltern nach solchen Momenten auch positive Handlungserfahrungen schaffen:
- Ein gemeinsames Gespräch, in dem Fragen erlaubt sind.
- Eine kleine, sichere Routine danach (z.B. ein Spaziergang, eine gemeinsame Mahlzeit, Vorlesen).
Körperliche Nähe, weil sie das Nervensystem beruhigt und Sicherheit spürbar macht.
Kinder, die erleben, dass Erwachsene Fehler machen dürfen, aber Verantwortung übernehmen und Situationen wieder in Ordnung bringen, entwickeln laut Bindungsforschung mehr innere Stärke, Empathie und Vertrauen in Beziehungen (Luyten et al., 2020).
Beratung und Literatur für Eltern
Hilfreiche Anlaufstellen:
- Telefonseelsorge: 0800 111 0 111 / 0800 111 0 222
- Hilfetelefon „Gewalt in der Familie“: 08000 116 016
- Nummer gegen Kummer: 116 111 (Kinder & Jugendliche) / 0800 111 0550 (Eltern)
bke-elternberatung.de – kostenlose Onlineberatung
Empfohlene Literatur:
- Bendis A. I. Saage (2023): Narzisstische Eltern – Narzissmus in der Familie und seine generationsübergreifenden Folgen
Daniela Kreissig (2022): Narzisstische Eltern – Der Einfluss narzisstischer Eltern auf die Persönlichkeitsentwicklung
Fazit
Wut ist ein normales Gefühl. Jeder Mensch wird wütend, auch Eltern.
Entscheidend ist, wie mit dieser Wut umgegangen wird.
Wenn Wut dazu dient, zu verletzen, zu kontrollieren oder Angst auszulösen, verliert sie ihre natürliche Funktion und wird zu einem Machtinstrument.
In Familien mit narzisstischen Dynamiken prägt genau dies den Alltag: Unsicherheit, Anspannung und das Gefühl, dass Zuneigung von der Stimmung des Elternteils abhängt.
Für Kinder bedeutet das, ständig auf der Hut zu sein.
Sie lernen, eigene Gefühle zu unterdrücken, um Streit zu vermeiden und verlieren dabei ein Stück Vertrauen in sich selbst und in andere.
Doch Veränderung ist möglich.
Heilung beginnt dort, wo Erwachsene beginnen, Verantwortung zu übernehmen, für ihr Verhalten, für Schutz und für eine neue Form des Miteinanders. Kinder entwickeln Vertrauen, wenn sie erleben, dass Erwachsene Verantwortung übernehmen und sich selbst regulieren können.
Auf www.luco-kids.de findest du kostenlose Tipps und (Online-)Kurse zum Thema Sicherheit im Alltag und Prävention für Kinder, Teenager und Erwachsene sowie Kinderbücher und Arbeitshefte, die helfen, über Gefühle, Grenzen und Selbstschutz zu sprechen.
